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INTERVIEW

"Am Gipfel kannst du nicht singen"

Alps #47 Herbst 2020 | Text: Andreas Haslauer | Foto: © Daniel Hug

Kaum einer hat dem "Heimatsound" den Weg so geebnet wie der Österreicher Hubert von Goisern.
Ein Interview mit einem Multitalent, das seine frühere Wildheit in künstlerische Reife verwandelte.

Der Mann erfüllt das Klischee des Alpen-Rebellen wie kein anderer. Doch: Hubert von Goisern ist es tatsächlich. Der Musiker zerschneidet jedoch das Tischtuch nicht zu denen, die anders als er sind. Der 67-Jährige, geboren als Hubert Achleitner, ergriff als Teenager die Flucht aus seinem Heimatdorf Bad Goisern, tingelte durch die Welt – später benannte er sich nach seinem Heimatort und ist dort sogar Ehrenbürger. Der heute gereifte Künstler über die Geborgenheit durch die Berge, seinen Begriff von Heimat und warum es eine Autobahnbrücke in der Oberpfalz brauchte, dass er Jodeln lernte.

Hubert von GoisernHerr von Goisern, Ihr letztes Konzert ist vier Jahre her. Seither haben Sie einen Roman geschrieben, ein Doppel-Album aufgenommen. Und Sie haben sich eine Auszeit genommen. Was haben Sie ein Jahr lang gemacht?

Wann immer es ging – und das war wirklich oft – war ich in den Bergen. Ich habe das E-Bike in dieser Zeit für mich entdeckt. Damit bin ich viel herumgekommen auf den Almen des Salzkammerguts.

Wie ein junger Hirsch durch die Trails?

Die halsbrecherischen Routen überlasse ich Jüngeren. Ich fahre am liebsten Forststraßen, und wenn's nicht mehr weitergeht, manchmal zu Fuß noch auf einen Gipfel.

Sind Sie ein Wettkampftyp?

Ich habe das Thema im Song Sieger verarbeitet. Es ist mir ein Rätsel, warum Menschen sich ständig mit anderen messen müssen. Ich habe das nie gebraucht, nie verstanden. Ich kann und will mich immer wieder, auch überwinden. Aber mich selber und nicht die anderen. Im Grunde bin ich ein Genießer. Schließlich will ich etwas von der Natur, den Tieren und der Umgebung mitbekommen. Und wenn das Wetter nicht gut war, dann habe ich mir Arbeit im Haus gefunden oder Bücher gelesen.

Sind Sie auch geklettert?

Das habe ich ein paar Jahre lang gemacht. Es war eine Herausforderung, mich meiner Höhenangst zu stellen, eine richtige Willensübung. Bis zur "Schwierigkeitsstufe "3+" konnte ich eine Wand gut bewältigen. Bei "4" hatte ich schon Stress, ab "5" stand die Angst dem Genuss im Wege.

Wo haben Sie sich beim Klettern den Adrenalin-Kick geholt?

Es ging mir nie um Adrenalin oder einen Kick, wie sie es ausdrücken, sondern um das Gefühl ganz im Hier und Jetzt zu sein. Ich war einige Male am Gosaukamm kraxeln. Das ist ein wunderschönes, wildzerklüftetes Bergmassiv westlich vom Dachstein.

Nach einer Tournee war ich auch einmal mit einem Freund in der Südtiroler Sellagruppe unterwegs. Die Frage, die sich vor allem stellte, war: "Wer erbarmt sich, mit mir zu klettern?" Im Ernst: Mir machte das Klettern in den unteren Schwierigkeitsgraden viel Spaß. Mir wurde aber schnell klar, dass aus mir kein zweiter Messner wird. Außerdem ist die Belastung der Finger der Feinmotorik abträglich. Nichtsdestotrotz liebe ich Berge, und wenn ich von meinem Haus in Salzburg auf den Untersberg, den Göll und das Tennengebirge schaue, beruhigt mich das. Berge bieten mir Schutz.

Wie kann ein Steinhaufen einen Menschen beschützen?

Er hält zum Beispiel das Wetter in Schach und hilft bei der Standortbestimmung. Wenn ich Berge sehe, löst das bei mir ein wohliges, angenehmes Gefühl aus.

Könnten Sie in einem flachen Land wie Holland leben?

Nein. Holland ist nett. Aber der Landschaft fehlt die dritte Dimension. Ich habe gemerkt, dass mich eine vollkommen flache Landschaft depressiv macht. Ohne Berge werde ich auf Dauer schwermütig.

Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Das liegt sicher daran, dass ich in den Bergen aufgewachsen bin. Sie ziehen meinen Geist in die Höhe. Hochzusteigen finde ich befreiend, es hilft mir über den Dingen zu stehen und mir einen Überblick über "das da unten" zu verschaffen. Berge zeigen mir, wo es lang geht.

Der Südtiroler Bergsteiger Hans Kammerlander hat mal auf die Frage, was er von den Bergen gelernt habe, geantwortet: "Demut, Demut, Demut".

Wie wahr. Berge sind einfach größer als wir, da hat der Hans vollkommen recht. Wir sollten aber der gesamten Schöpfung gegenüber demütig sein: dem Meer, der Wüste und allem Leben gegenüber.

Welche Berge sehen Sie von Ihrem Salzburger Haus aus?

Neben den bereits erwähnten sind da noch der Gaisberg und Teile der Osterhorngruppe zu sehen. Sie halten mir, metaphorisch gesprochen, den Rücken frei. Ein Zweitagesmarsch bringt mich über die Postalm in meinen Heimatort Bad Goisern.

Warum haben Sie damals Bad Goisern fluchtartig verlassen?

Es war keine Flucht. Goisern hat mich ausgespuckt. Ich war nicht bekömmlich.

Warum?

Weil ich mit meiner Lebens- und Denkweise überall aneckte. Die Leute haben mich nicht verstanden oder wollten mich nicht verstehen. Die ständigen Spannungen, Reibereien und Streitereien: Ich musste gehen.

Wie kamen Sie zur Musik? Ihre Eltern waren ja nicht ganz so musikalisch.

Die Musik kam zu mir. Sie ist Teil meiner DNA.

Aus Hubert Achleitner wurde irgendwann der Künstler "Hubert von Goisern". Bekenntnis zur Heimat oder Racheakt?

Genugtuung würde ich es nennen. Während heute die meisten jungen Menschen ihre Individualität ausleben dürfen, herrschte damals ein großer sozialer Druck auf alle, die anders waren, anders dachten oder anders sein wollten. "Das macht man nicht", hieß es bei uns im Ort immer. Für mich war irgendwann klar: Ich bin hier ein Fremdkörper.

Sie entschlossen sich also als Teenager, zu gehen ...

... ohne genau zu wissen, wohin mein Weg führte. Das einzige, was ich wusste, war: Hubert, Du musst weg von hier. Danach war ich jahrelang auf den unterschiedlichsten Kontinenten bei unterschiedlichsten Kulturen. Und ich war glücklich, weil ich erst in der Ferne richtig zu mir finden konnte.

Aber die Heimat wollte Ihnen einen Kulturpreis überreichen?

Ja, nachdem ich Erfolg hatte. Derselbe Bürgermeister, der mich ein paar Jahre zuvor nicht auftreten hat lassen und trotz aller Proteste den letzten Vereins- und Veranstaltungssaal abgerissen hat, will dann auf kulturaffin machen. Ich habe natürlich abgelehnt. Inzwischen bin ich aber mit meiner Heimat versöhnt.

Seit Sie Ehrenbürger sind?

Schon länger. Vor allem, seit meine Widersacher nicht mehr unter uns sind. Allerdings wurde ich nicht einstimmig zum Ehrenbürger ernannt. Die Haiderpartei war geschlossen gegen meine Auszeichnung. Ich finde das klasse! Das macht die Auszeichnung wieder erträglicher.

Sie hätten auch die Auszeichnung verweigern können.

"Es gibt nur eins, was noch peinlicher ist als eine Ehrung anzunehmen, nämlich sie abzulehnen", hat Teddy Podgorski (österreichischer Fernsehjournalist, Anm. d Red.) mal gesagt.

Wie oft kommen Sie heute nach Bad Goisern?

Hauptsächlich im Sommer, weil es im ganzen Haus nur einen einzigen Ofen gibt. 1992 habe ich mir das Häuschen von meinem ersten Geld gekauft. Der Hit Koa Hiatamadl hat mir das Haus in meiner Heimat finanziert.

Was bedeutet für Sie Heimat?

Ich sage Ihnen zuerst, was Heimat für mich nicht ist: ein Ort auf einer Landkarte und ein Synonym für Wohlbefinden. Heimat ist für mich dort, wo ich mich als Mensch einbringe. Wenn ich wo bin und dort mitrede, mitdiskutiere, mit dabei bin, mit Hand anlege – dann ist das Heimat. Heimat ist nicht unbedingt ein Ort. Auch Menschen sind Heimat. Das Gefühl ist im Salzkammergut am stärksten, in der Sprachmelodie und in der Musik und nicht zuletzt in den Bergen, auf den Gipfeln.

Weil Sie dann über den Dingen stehen?

Wenn ich oben auf dem Berg stehe, dann merke ich erst, wie klein doch unsere Probleme sind. Ich meine aber nicht nur die gesellschaftlichen Themen, sondern auch unsere persönlichen.

Singen Sie eigentlich auch oben am Gipfel?

Nein, nie.

Warum nicht?

Es klingt einfach nicht gut. Zum Singen braucht es einen Raum – Gipfel sind die Offenheit schlechthin. Es gibt eine Szene in Fergus Flemings Buch Nach Oben, in der die Engländer den Montblanc erklimmen und am Gipfel stolz God Save The King singen. Nachdem es so gar nicht majestätisch, sondern im Gegenteil sehr mickrig klang, haben sie sich gegenseitig beschworen, niemandem davon zu erzählen.

Bei den ersten Platten haben Sie noch gar nicht gejodelt. Warum erst später?

Weil ich es vorher nicht konnte.

Wann und wie haben Sie es gelernt?

Mit 37 Jahren auf einer Autobahnbrücke in Regensburg, auf dem Weg ins Kulturzentrum.

Im Ernst?

Wenn man Jodeln nicht wirklich kann, dann klingt es richtig grausig. Zu der Zeit wohnte ich noch zur Untermiete. Wie hätte ich also üben sollen? Ich klang wie ein waidwundes Tier.

Wieso um alles in der Welt dann auf einer Autobahnbrücke?

Dort war es so laut, dass mich niemand hören konnte. Eine rauschende Wehranlage wäre mir auch lieber gewesen. Man wollte spüren, was beim Registerwechsel mit den Stimmbändern passiert, habe ich mir gedacht. Und so dumm war mein Gedankengang gar nicht. Jahre später habe ich erfahren, dass tibetische Sängerinnen zu tosenden Wasserfällen gehen um ihre Gesangstechniken zu lernen und zu verbessern.

Jodeln und singen Sie beim Wandern?

Nein. Am Anfang sind meine Gedanken noch laut, ungeordnet, wild. Das flacht mit der Zeit ab. Irgendwann wird jeder Wanderer frei. Für mich ist das Wandern wie Meditation. Nicht an den Gedanken festhalten, sondern ihnen freien Lauf zu lassen, sie nur beim Kommen und Gehen zu beobachten.

In einem Interview sagten Sie mal, dass Sie ständig Musik "in sich hören", eigentlich kein Radio bräuchten.

Ja, das ist richtig. Ich höre immer Musik. Harmonien, Melodien, Rhythmen ... Bekanntes, aber auch Sachen die ich noch gar nicht kenne. Der schönste Ohrwurm kann aber auch nerven. Dann muss ich das Ding so schnell wie möglich loswerden. Mit einer anderen Melodie austreiben, wie den Teufel mit dem Belzebub.

Für eine Ausstellung der Großglockner-Hochalpenstraße haben Sie eine Musikauswahl aus dem Alpenraum zusammengestellt, Ihre Steilklänge. Wie haben Sie sich mit dem musikalischen Erbe der alpinen Kultur auseinandergesetzt?

Steilklänge ist eine musikalische Anthologie des Alpenraums. Ohne Anspruch auf Vollkommenheit. Der Soundtrack der Berge ist wirklich gewaltig.

Komponieren Sie auch in der Natur?

Nein. Die Natur ist schon perfekt. Die Vögel singen, Bussarde kreischen, der Wind und die Murmeltiere pfeifen, die Gebirgsbäche rauschen. Ich denke nicht, dass es dafür noch einen Dirigenten aus dem Tal bedarf. Die Symphonie der Berge kann niemand toppen, deswegen versuche ich es gar nicht. Die Natur genügt sich selbst.

Wie würden Sie Ihre Musik selbst bezeichnen?

In den 90ern hat man sie als Alpenrock beschrieben. "Alpine Grunge", nannte es Lou Simon von TEA Tecords. Meine Intention war es in den 90er-Jahren, die Volksmusik zu befreien von ihrer Tümelei und dem nationalsozialistischen Staub.

Sie singen in österreichischem Dialekt. Den verstehen die wenigsten auf der Welt. Trotzdem kommen bis zu 90000 Besucher zu Konzerten in Ägypten, Burkina Faso, Senegal, Grönland oder Paris, Texas und New York. Warum ist das so?

Meine Passion ist es, die Leute durch meine Musik auf eine gemeinsame Reise mitzunehmen. Das, was ich singe, mögen sie vielleicht nicht ganz verstehen. Dafür spüren sie die Kraft, den Rhythmus, die Harmonie und die Zärtlichkeit. Genau das macht Musik aus. Wenn es eine universelle Sprache auf der Welt gibt, dann die Musik.

Haben Sie mal versucht, in einer anderen Sprache zu singen?

Nicht nur versucht. Auf dem neuen Album singe ich ganze drei Lieder in der Umgangssprache, der Rest ist dialektfrei.

Ihr Vater war nicht begeistert, dass Sie Musiker wurden. Wie ist das heute?

"Musiker leben doch wie die Zigeuner", hat er immer geschimpft. Würde ich ihn darauf ansprechen, müsste er sich eingestehen, dass er sich verschätzt hat. Das will ich ihm nicht antun. Er ist sehr stolz auf mich.

Wie lange werden Sie noch kreativ sein?

Kreativität gehört zum Leben dazu. Die Dinge und Umstände ändern sich andauernd, und wir müssen immer wieder neue Wege finden, um knifflige Stellen zu überwinden. Und das will ich tun, so lange es Geist und Körper gestatten.

Vor ein paar Tagen habe ich meinen Vater in Goisern besucht. Ich habe geklingelt, doch keiner machte auf. Ich machte mir schon Sorgen, dass etwas passiert sein könnte. Dann hörte ich Geräusche auf dem Dach. Ich blickte nach oben und habe meinen Augen nicht getraut: Mein Vater stand mit seinen 92 Lahren auf dem Dach und wechselte ein paar Dachziegel aus. In dem Alter machst du das nicht mehr mit Kraft, sondern mit Einfallsreichtum.