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HUBERTS SCHREIBTISCH

Das Geheimnis des letzten Christbaumes

1. Dezember 2020 | Text: Hubert von Goisern

Es begann jedes Jahr mit der Besorgung des Reisigs für den Adventkranz. Seine Herkunft war nie ein Geheimnis, das schnitten wir vom Baum, von irgendeiner Tanne im Wald, der gleich hinter dem Haus begann. Im eigenen Garten standen ja, sah man von der Buchenhecke ab, nur Obstbäume. Geheimnisvoll war höchstens, dass es dafür einen bestimmten Kalendertag gab. Denn wer das Abnadeln der Zweige nicht dem Zufall überlassen wollte, stapfte nur an bestimmten Tagen mit Axt oder Säge bewehrt durch die tief verschneite Landschaft und schleppte Äste durch den Ort. Man musste dazu gar nicht selber die höheren Weihen der Mondphasen empfangen haben, es reichte die Beobachtung der Nachbarn.

Aber mit dem Einzug des Adventkranzes, und dem Duft, den das Tannenreisig und die Kekse verströmten, begann auch das Rätseln unter uns Kindern, wie das wohl heuer gehen würde mit dem Christbaum. Damals standen ja nicht an jeder zweiten Straßenkreuzung "Nordmänner" zum Verkauf. Und, dass die Bundesforstverwaltung in Goisern einen Innenhof hatte, erfuhr ich auch erst viel später. Jeder rechtschaffene Goiserer mied dieses Gebäude instinktiv, beherbergte es doch den Gott-sei-bei-uns in Gestalt des Oberförsters. Solange wir noch an das Christkind glaubten, war alles im Lot: Der Christbaum war Teil des Weihnachtswunders. Mit dem Verlust der Naivität kam nach und nach die Wahrheit ans Licht; nur das Mysterium des Weihnachtsbaumes hielt hartnäckig unserer Neugier stand. Diesbezügliche Fragen waren verboten, lösten strenge Blicke beim Vater und besorgte bei der Mutter aus. Wir wussten nur, dass er nicht vom Himmel fiel, bis wir eines späten Abends im Advent unseren Großvater mit einem Baum in der Holzhütte verschwinden sahen. Bedrängt und unter dem Siegel der Verschwiegenheit rückte er die Wahrheit heraus, dass nämlich der Christbaum nicht nur kein Geschenk des Himmels war, sondern sozusagen das Gegenteil: etwas gestohlenes. Natürlich nur in den Augen der Förster, wie er bedeutungsvoll hinzufügte. Denn er sehe das anders, dass nämlich der Wald und die Berge, sowie der See und die Traun, unser aller Eigentum sei; selbstverständlich mit allem was dazugehört, dem Wildbret und den Fischen. Und weil er schon einmal dabei sei, sollen wir auch wissen, dass es, abgesehen von Förstern, Jägern, Lehrern und Gendarmen auch noch sogenannte "Hochzeits-Schauer", "Dampf-Plauderer" und "Schoas-Prachter" gab, vor denen man sich hüten müsse.

Auf's Christbaumstehlen kam er erst im Sommer des nächsten Jahres wieder zu sprechen. Bei einer Bergtour. Einen Schlag überquerend wies er auf eine Gruppe junger Tannen und meinte, da sei ein schöner dabei. Den gälte es sich zu merken. Schöner Wuchs, regelmäßig und eng, sowie – das wichtigste: er stand in einem dichten Mais, wo es "eh zu wenig Licht für alle" gab. Einen herauszuschneiden war "geradezu Pflicht". Weil aber die Möglichkeit bestand, dass dieser Baum auch einem anderen auffiel, und dieser jene einem zuvor kommen könnte, müsse man sich zumindest zwei, noch besser drei weitere Bäume ausspähen um nicht in die Bredouille zu kommen. Denn wenn erst einmal der Schnee auf den Ästen lag sei es schwer, einen schönen Baum auszumachen.

Als mein Großvater 70 wurde, beschloss meine Mutter, dass mein Vater ihm das vorweihnachtliche Baumstehlen zu verbieten hatte. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er schweigend und bedächtig seine Kartoffelsuppe löffelte, und als er fertig war, verkündete, dass ich das jetzt übernehmen könne. Ich sei ja eh schon 16. Er selber werde ab nun nur noch einen Baum "besorgen", den für seine Tochter in der Stadt. Diese Form des Widerstandes hielt er aufrecht bis zum 75-er. Da ereilte ihn sein Schicksal. Die Einführung der Plombierung gekaufter Bäume hatte nur zum Teil damit zu tun. Alle Erwachsenen redeten ihm ins Gewissen, es doch endlich sein zu lassen. Wenn man ihn erwische oder dahinter käme, würde man ihn einsperren und seine Tochter dazu ...

Ich traf ihn am Nachmittag, als er gerade vom Bahnhof kam, nachdem er den Baum zum Versenden nach Linz dorthin gebracht hatte. Er war ungewöhnlich aufgekratzt und sein Gesicht war puterrot. Er wirkte etwas verwirrt und es dauerte eine Weile, bis ich aus seinen Worten schlau wurde und den Grund seiner Entrüstung erfasste. Er war tatsächlich ins Forstamt gegangen, um zum ersten Mal in seinem Leben einen Christbaum zu kaufen.

Nachdem er alle Tannen inspiziert hatte, musste er feststellen, dass es nur einen einzigen Baum gab, der seinen Idealen entsprach. Dieser hatte aber acht Reihen und war damit viel zu groß für das Wohnzimmer von Tante Mimi. Da die kleineren Exemplare allesamt "Krempen", also von unregelmäßigem Wuchs waren, kam nur der Achtreiher in Frage. Allerdings war er nur bereit gewesen, für die oberen 5 Reihen zu bezahlen. Diese Rotzpippn hatten jedoch darauf bestanden, dass er den ganzen Baum bezahlte. Daraufhin war er heimgegangen, um wenig später mit dem Fuchsschwanz im Rucksack wiederzukommen. In einem unbeobachteten Moment hatte er die unteren drei Reihen des Baumes abgesägt und ihn dann zur Kassa gebracht. Ganz hinten hätte er ihn gefunden, den müsse er vorher übersehen haben.

Nachdem er mir das erzählt hatte, ging er nach Hause, um sich ein wenig niederzulegen. Aus diesem Schlaf wachte er nicht mehr auf. Gehirnschlag sagte der Arzt – "Hat er sich in den letzten Stunden über etwas aufgeregt?"

Ich bin heute noch froh, dass sein "letzter Baum" wenigstens zum Teil noch gewildert war.